Venedig, Stadt der Fotografie
Casa dei Tre Oci – Ausstellung Willy Ronis
Casa dei Tre Oci ist nicht nur ein Museum, sondern ein im 20. Jahrhundert erbautes Palais. Seinen Namen verdankt es den drei großen Fenstern (die „drei Augen“) im Obergeschoss, die einen unverbauten Blick auf den Giudecca-Kanal und die Hauptinsel direkt gegenüber bieten. Zusätzlich zum Ausblick, der sich an diesem Tag besonders diesig zeigt, besuchen wir das Casa dei Tre Oci wegen der temporären Ausstellung. Es handelt sich um eine Retrospektive des französischen Fotografen Willy Ronis von 1934 bis 1998. Co-produziert mit dem Jeu de Paume in Paris und dem Kulturministerium zeigt die Ausstellung über 100 Aufnahmen des Mannes, der neben Doisneau und anderen einer der großen Namen der französischen humanistischen Fotografie ist.
Nach der Belle Époque
Bei der Betrachtung von Fotografien aus dem letzten Jahrhundert sind wir oft hin und hergerissen. Bei einigen fällt es uns leicht, sie als Meisterwerke anzuerkennen, andere dagegen geben uns das Gefühl, dass, um als Fotograf Fuß zu fassen, nicht viel mehr nötig war als zufällig Zugang zu einer Kamera zu bekommen und Gefallen daran zu finden. Was keinesfalls die Qualität des Fotografen oder der Fotografien der Ausstellung in Frage stellen soll ! Aber heute, in einer Zeit geprägt von Instagram, in der jeder ständig Bildmaterial produziert, liegt die Frage nach der Legitimität eines Fotografen nahe. Die Technik oder der Preis des Equipments sind seit einigen Jahren kein Hindernis mehr und es wird zunehmend schwieriger, in der Bilderflut diejenigen Fotografien auszumachen, die tatsächlich von dokumentarischem oder künstlerischem Interesse sind.
Aber die Fragen von heute schmälern nicht das Talent von gestern. Wir bewundern die berühmtesten Bilder Ronis und tauchen durch sie ein in das tägliche Leben der einfachen Menschen von damals.
Seine politisch linke Ausrichtung spiegelt sich in seinen Bildern wider, von Paris bis zum Süden Frankreichs und natürlich in seiner Serie über die Arbeiterklasse dieser Zeit. Fun Fact : Das Titelbild der Ausstellung zeit ein junges Paar über den Dächern von Paris, obwohl wir uns im Herzen Venedigs befinden und sich in Ronis Portfolio einige exzellente Fotografien dieser Stadt finden.
Museum M9 Mestre – Multimediamuseum
Am 31. Dezember, um Kräfte für das Feuerwerk am Abend zu sparen und nicht zu lange in den Straßen der Insel zu frieren, entscheiden wir, den Tag in Mestre zu verbringen und erst am Abend auf die Insel zu fahren. Ein neues Museum hatte kurz zuvor seine Türen geöffnet und das ist die Gelegenheit, ihm einen Besuch abzustatten. Das multimediale Museum M9 eröffnete im Dezember 2018, anscheinend groß und spezialisiert auf das 20. Jahrhundert. Neu wie es ist findet sich noch nicht viel brauchbare Information darüber im Internet, wo lieber lebhaft debattiert wird, ob das M9 sich ein venezianisches Museum nennen darf, da es sich ja nicht auf einer der Inseln befindet.
Etwas Wahres ist auf beiden Seiten zu finden, da das Museum natürlich versucht, mehr Besucher anzulocken, indem es auf der künstlerischen Welle Venedigs mitsurft, auf der anderen Seite ist Mestre nunmal offiziell Teil Venedigs.
L’Italia dei fotografi. 24 storie d’autore
Wie dem auch sein, wir entscheiden uns — natürlich- für die temporäre Ausstellung mit dem Titel „Italien der Fotografen — 24 Künstlergeschichten“.
Vor Ort stellen wir fest, dass die Ausstellung co-organisiert ist vom Casa dei Tre Oci. Nichts ist Zufall.
24 italienische Fotograf*innen des 20. Jahrhunderts, 24 ziemlich verschiedene Ansätze. Es gibt ein bisschen von allem : von Fotojournalismus in schwarzweiß bis zu modernem Brutalismus, bestimmt ist für jeden etwas dabei, aber kaum einen wird alles ansprechen.
Von den 24 Künstlern möchten wir fünf besonders hervorheben, in der von der Ausstellung vorgegebenen Reihenfolge.
Letizia Battaglia zog als erste meine Aufmerksamkeit auf sich. Geboren in Palermo beschäftigt sie sich fotografisch mit der sizilianischen Mafia. Von März bis August 2019 stellt sie im Casa dei Tre Oci aus.
Darauf folgen Mario de Biasi und seine Straßenfotografie der fünfziger Jahre sowie Luca Campigotto mit dem Thema Langzeitbelichtungen venezianischer Nächte.
Nino Migliori ist ebenfalls Straßenfotograf, die ausgestellten Fotos entstammen seiner Serie „Gente dell’Emilia“ von 1957. Zuletzt einer der wohl bekanntesten Fotografen dieser Reihe, Gianni Berengo Gardin, mit seiner Reihe „Morire di classe“. Eine einzige Wand in dieser Ausstellung ist sicherlich zu wenig, um Berengo Gardin gerecht zu werden, vor allem mit einer Serie wie dieser, die sich mit den Lebensbedingungen in psychiatrischen Kliniken der sechziger Jahre beschäftigt. Das kann das Thema natürlich höchstens anreißen und dazu anregen, sich näher damit zu beschäftigen.
Venedig und zeitgenössische Kunst, eine explosive Liebesgeschichte
Peggy Guggenheim und Venedig
Es gäbe viel zu sagen über Peggy Guggenheim, man könnte einen Artikel nur über sie schreiben. Vielleicht später mal. Bis dahin konzentrieren wir uns auf das, was wir im venezianischen Museum gesehen haben, das auch ihr letztes Zuhause war. Peggy Guggenheim erbt mit nur 21 Jahren ein beträchtliches Vermögen von ihrem Großvater, ihr Vater selbst verschwand einige Jahre zuvor beim Untergang der Titanic. Ausgewandert nach Europa entdeckt sie die moderne Kunst für sich, die sie schätzt, von der sie aber nicht viel versteht. Vor allem Jean Cocteau und Marcel Duchamp nehmen sich ihrer künstlerischen Ausbildung an. Peggy beginnt, in einem Kaufwahn während des zweiten Weltkrieges Kunstwerke anzuhäufen. Die Legende (also Peggy selbst) erzählt, sie habe beschlossen, die Kunst vor den Nazis zu retten, in dem sie jeden Tag ein Kunstwerk kauft.
Einen Teil dieser immensen Kollektion, die sie ihr Leben lang fortgeführt hat, kann man in Venedig bewundern.
Kollection Peggy Guggenheim
Es ist schwer zu übersehen, dass dieses Museum eine der besten Sammlungen moderner Kunst in Europa bietet. Beim Eintreten denken wir, dass wir noch nie so viele bekannte Namen Seite an Seite gesehen haben, ausser vielleicht in einer Enzyklopädie über moderne Kunst.
Chagall Seite an Seite mit Dali, Picasso und Miró. Magritte nimmt einen prominenten Platz im Eingangsbereich ein und ein Saal ist Jackson Pollock gewidmet. Kandinsky, Klee, Mondrian und Braque sind auch nicht weit. Der Palast ist nicht gigantisch, aber die Konzentration berühmter Künstler ist beeindruckend. Im Aussenbereich komplettiert ein Garten mit Statuen das Ganze. Peggy ruht dort für immer, direkt neben ihren Hunden. Abgesehen von diesem morbiden Detail lohnt es sich, dort den Ausblick auf den Kanal und den dort platzierten Reiter zu bewundern. Man erzählt sich, dass das erigierte Geschlechtsteil der Statue von Marino Marini abnehmbar war, um es während religiöser Prozessionen auf dem Kanal zu entfernen. Und auch, dass Peggy Guggenheim Spaß daran hatte, damit vor den letzten Gästen ihrer ausschweifenden Parties herumzufuchteln. Gestohlen am Ende einer dieser feucht-fröhlichen Feste wurde besagtes Objekt ersetzt und mit dem Rest des Körpers verlötet. Wie eine letzte Provokation des Amerikaners gegen das Establishment.
Stiftung François Pinault für zeitgenössische Kunst
Albert Oehlen im Palazzo Grassi
Wir sehen dort die Ausstellung, die dem deutschen Maler Albert Oehlen gewidmet ist. 85 Gemälde und 40 Jahre Retrospektive über den Schüler von Sigmar Polke, der so viele Gesichter hat wie es Säle im Grassi gibt.
Wir, ein wenig enttäuscht, keine der Dauerausstellungen der Pinault-Sammlung sehen zu können, haben den Eindruck, mit Oehlen eine Gruppenausstellung zu sehen. Als roter Faden lässt sich seine Liebe zu Mischtechniken, Bäumen und insbesondere zu unpassenden Titeln (oder auch deren Abwesenheit) sehen. Unser Liebster ? Vielleicht „Titankatze mit Versuchstier“. Ganz Albert.
Wir haben uns sehr an der Fotografie in Venedig erfreut (sowohl derer anderer als auch unserer eigenen). Genauso haben wir moderne und zeitgenössische Kunstwerke bewundert — oder skeptisch betrachtet. Und dies ist nur ein kleiner Teil dessen, was in Venedig das ganze Jahr über zu erleben ist, ein Highlight ist sicherlich die Biennale der zeitgenössischen Kunst, die immer in ungeraden Jahren stattfindet. Auch in Peggys Abwesenheit behält die Stiftung Guggenheim ihren Kurs bei und erwirbt neue Werke. Pinault hat inzwischen die Genehmigung erhalten, ab 2019 in der Bourse de Commerce in Paris auszustellen. Nach seinem jahrelangen Kampf darum, in Paris ausstellen zu dürfen, bleibt abzuwarten, was mit seinen Ausstellungen in Venedig passiert.